Eigentlich wollte ich dahin gehen, wo die Sonne scheint und wo es warm ist. Stattdessen bin ich nun in Finnland gelandet. Sicher fragt Ihr Euch jetzt, warum. Vor langer, langer Zeit bin ich mit einem guten finnischen Freund und zwei weiteren seiner Freunde nach Turin zur Winterolympiade gefahren, um dort die Spiele ihres Eishockeyteams anzuschauen. Nun habe ich mich auf den Weg gemacht, ihn bei sich in Turku zu besuchen. Da er aber erst ab dem 8. Januar Zeit hat, schaue ich mir in den nächsten fünf Tagen die Hauptstadt Finnlands, Helsinki, und Tallin, die Hauptstadt Estlands, an. Durch die Nähe zum Nordpol ist es in Skandinavien richtig dunkel und kalt dieser Tage. Allerdings ist es längst nicht so schlimm wie ich dachte. Tagsüber ist es wie eine Art Dämmerzustand. Als wäre es den ganzen Tag stark bewölkt. Ab 16.30 ist es stockdunkel. Wer Sightseeing betreiben möchte, sollte früh aufstehen. Auch die Kälte ist nicht so durchdringend wie bei uns, trotz Minusgraden.
Finnland ist ein lustiges Land und auch wenn es ein ganz normales Erste-Welt-Land zu sein scheint ist hier vieles anders. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so verloren gefühlt. Ich kann hier nichts lesen oder verstehen. In Ländern mit englischer, indogermanischer oder romanischer Sprache kann ich vieles verstehen oder schnell herleiten. Die Sprache hier ist so komplett anders, als alles, was ich je zu lesen bekommen habe, und gilt zudem als sehr schwer zu erlernen. Die finno-ugrischen Sprachen haben eine eigene Grammatik und andere Wortstämme. Zudem können die Wörter wie im Türkischen unendlich in die Länge gezogen werden, da die Grammatikinformationen an deren Ende platziert werden. Sie dann zu lesen ist sehr lustig. Das Schriftbild sieht aus, als habe jemand mit einer Tastatur gegen einen Baum geschlagen. Allerdings immer auf die selbe Stelle, da immer wieder dieselben Buchstaben unzählige Male und meist paarweise vorkommen. Auch war wohl die „ä“-Taste deutlich größer, denn dieser Buchstabe scheint es den Finnen besonders angetan zu haben.
Obwohl das Land sehr groß ist, hat es sehr wenige Einwohner. 14 pro Quadratkilometer, das ist weniger als Thüringen und da wurden wieder Wölfe gesichtet. Doch hat das Land viel zu bieten. Skandinavien ist kulturell einfach anders als Mittel- oder Südeuropa. Im Straßenbild sehe ich viele gehobene Mittelklasse-Fahrzeuge, aber keine Limousinen oder Sportwagen. Herauszustechen scheint hier kaum einer zu wollen, so sind die meisten Bewohner Helsinkis dunkel bis schwarz gekleidet. Ich habe sogar eine Boutique gesehen, mit ausschließlich schwarzen Klamotten. In mein Bild der Skandinavier passt das ganz hervorragend. Finnland ist wie Schweden, Dänemark und Norwegen ein klassischer Wohlfahrtsstaat. Gleichmacherei ist Staatskonzept. Die Steuerlast ist hoch, Bildung ist komplett umsonst und zählt in Finnland zählt zu den besten weltweit. Es gibt eine Grundrente von 600 Euro plus die Arbeitsrente und das bedingungslose Grundeinkommen wird derzeit getestet. Zudem ist es das erste Land der Welt, das 1917 das Frauenwahlrecht einführte. Ich versuche mir das zu erklären. Die nordischen Länder haben einen sehr viel härteren Kampf Mensch gegen Natur zu kämpfen als andere Weltregionen. Da kann man nur mit Solidarität und Zusammenhalt überstehen. Und das funktioniert nur dann, wenn sich alle einreihen und nach den Regeln spielen. Der mahnende Blick einer Radfahrerin zeigt mir das schnell, als ich auf einer riesigen und zudem leeren Freifläche über einen aufgemalten Radweg lief. Während die Skandinavier also eher den winterlichen Gewalten trotzten, konnten die im Überfluss Lebenden Mittel- und vor allem die Südeuropäer ihre Kräfte mit den direkten Nachbarn austesten. Italien, Spanien, Deutschland, bis in die Neuzeit alles zerfledderte Kleinst-Reiche mit losem Zusammenhalt, die sich untereinander, miteinander oder gegeneinander ständig bekriegten.
Ich überlege mir gerade, ob der Protestantismus genau deswegen in der ebenfalls von Naturgewalten geprägten Schweiz und den skandinavischen Ländern so viel Anklang fand, im Gegensatz zu den verschwenderischen katholischen Monarchen, deren Länder heute wirtschaftlich sehr viel schlechter da stehen. Ich werde die Wahrheit wohl nie erfahren. Glücklicher sind die Skandinavier in jedem Fall. Gleich vier skandinavische Länder sind unter den Top 5 vertreten, Finnland ist auf Platz fünf. Als Gründe gelten ein zufriedenstellendes Einkommen, Gesundheit, Krisenbewältigung, Großzügigkeit, Freiheit und Vertrauen, besonders in Bezug auf die Abwesenheit von Korruption in Politik und Wirtschaft.
Zudem sticht Finnland durch seine Produkte hervor, die stilvoll im skandinavisch-minimalistischen Design produziert werden. Bekannt sind beispielsweise die Firmen Nokia, Husquarna und Fiskars, Computerspiele wie Max Payne, Angry Birds und Clash of Clans, oder unzählige (Death) Metall Bands wie Lordy und Apokalyptica sowie Filme wie Iron Sky und die der Kaurismäki Brüder.
Im nächsten Brief schreibe ich, ob Finnen wirklich so wenig reden, warum ihr Bildungssystem der fleischgewordene Gegenentwurf zu G12 ist und ob Helsinki eine Reise wert ist…