München – Die Stadt mit den zwei Gesichtern
Wer noch nie in München war, hat sicher viele Bilder und Vorurteile im Kopf. In ganz Bayern wird die CSU gewählt. In ganz Bayern? Nein. Eine kleine Landeshauptstadt wehrt sich seit Jahrzehnten gegen die schwarze Flut und sorgt bei Wahlergebnissen immer wieder für den fast einzig roten Fleck im erzkonservativen Bundesland. Hier umarmen sich Konservative und Alternative lieblos und nehmen die Existenz des Anderen stoisch hin. Doch es gibt noch eine Dritte Gruppe, die mir in die Augen sticht. Nämlich diejenigen, die gar nichts haben. Und die gehören allgegenwärtig zu Münchens Stadtbild wie die Prunkbauten und der Olympiapark.
Doch nun starte ich von Anfang an. Ich verbringe ein verlängertes Wochenende in München, habe wenig Pläne und meinen Blick gerichtet auf die Hochkultur, von der München einiges zu bieten hat. Ich komme bei einem Freund unter, Ulrich, ein Medienpädagoge und Lightpainter. Er malt mit verschiedenen Lichtquellen während die Kamera langzeit-belichtet. Die Ergebnisse sind wirklich Beeindruckend. Ich genieße die Zeit die ich mit ihm hier verbringen kann, denn was gibt es denn schöneres als eine Stadt mit jemanden zu entdecken der sie wie seine Westentasche kennt.
Unsere erste Station ist das Isarufer direkt neben einer Eisenbahnbrücke. Das Ufer des Flusses wurde in den letzten Jahren renaturiert und soll, wenn es nach dem Willen einiger junger Menschen geht, ein Strandbad bekommen. Die Aktion Isartreiben soll darauf aufmerksam machen. Da wegen der starken Regenfälle der letzten Tage die Veranstaltung drei Mal verschoben wurde, kommen am Ende deutlich weniger als die 600 vorangemeldeten Schwimmer. Stattdessen sind fast mehr Medienvertreter anwesend als Teilnehmer. Unter den Augen von THW und einem beachtlichen Aufgebot der Polizei finden sich die Schwimmer ein. Ich finde den Kontrast sehr spannend, auf der einen Seite die wohlsituierten Studenten und Junggebliebenen und wenige Meter weiter findet man die Camps der Wohnungslosen unter den Brücken. Über deren ganze Breite ziehen sich die Matratzenlager. Es riecht nach Urin und Alkohol. Keine 100 Schritt weiter kann ich mir einen aufblasbaren Beutel für 40 Euro kaufen, an dem ich mich beim Runtertreiben in der starken Isarströmung festhalten kann.
Begleitet werden wir noch von dem jungen Iraner Majid. Er ist an diesem Wochenende ebenfalls Gast bei Ulrich. Er hat sich einen Neoprenanzug geschnappt und lässt sich auf das Isarabenteuer ein. Das Wasser ist ganz wunderbar, die Teilnehmer genießen die Veranstaltung sichtlich und die Ausrichter haben ebenfalls ihre Freude.
Im Anschluss findet ein Konzert statt. Ich werde Zeuge einer Begegnung der dritten Art. Ein bayrischer Hippieindianer besingt den Widerstand gegen die böse Herrschaft. Gleichzeitig bekomme ich eine Lektion in das Kommunalrecht in München. So dürfen Kundgebungen mit Musikalischen Stücken begleitet werden. Auf Gutdeutsch ist das Konzert formal eine Kundgebung und muss alle 10 Minuten von einem Redebeitrag unterbrochen werden. Willi, so heißt der Indianer, kennt das Spiel und macht sich über diese Regeln, den Bayrischen Staat, die Kollegen von der Polizei unter deren Argusaugen das Konzert stattfindet und den deutschen Alpenverein immer wieder lustig. Wie lustig die Polizisten das findet wird mir auf ewig unklar bleiben. Es war eine Mordsgaudi und ich habe großen Spaß.
Nun geht es weiter. Es gibt eine illegale Elektro-Party auf einer der Isarinseln mitten im Stadtgebiet. Da direkt daneben eine rauschende Staustufe ist, hört kein Anwohner auch nur irgendwas davon. Lustigerweise ist der Bayrische Landtag in direkter Sichtweite. Law and Disorder Tür an Tür. Solche Feiern gibt es wohl öfter. Fussgängerunterführungen werden an beiden Seiten mit Molton lichtdicht verhängt und dann wird Musik gespielt. Es werden Getränke ausgeschenkt und es gibt einen Dancefloor. Was ich am aller faszinierendsten finde ist, dass wir auf dem Weg dorthin an einer In-Disco vorbeikommen. Auf der Straße davor sitzen dutzende Kids und spielen Pokemon Go. Ich traue meinen Augen nicht. Nun wird mir klar, warum so viele so selbstverständlich eine Powerbank dabei haben. Ich habe eine Sony Z3 und mein Akku kommt selbst wenn ich stundenlang mich von ihm durch die Stadt führen lasse und ewig im Netz surfe nicht an seine Grenzen. Die Leute um mich herum haben aber nur ein iPhone 6 und da ist der Akku natürlich schnell am Ende. Gerade wenn man stundenlang damit zockt.
Nach der Massenkultur schaue ich mir tags darauf die Hochkultur an. In der Pinakothek der Moderne möchte ich meine Kulturwoche hochleben lassen. Ich finde was ich sehen wollte, vom Blauen Reiter über Miro hin zu den anderen Zeitgenossen. Franz Marc hat es mir einfach angetan. Auch hier sehe ich wieder den gleichen Kontrast wie zuvor an der Isar und später in Münchens Innenstadt. Als ich in einen Raum komme schläft links hinten eine Aufsicht. Auf Grund seines Äußeren halte ich ihn für einen Nordafrikaner, möglicherweise ein Syrer? Zwei Räume weiter reden zwei Aufsichten die vom krisengebeutelten Horn von Afrika kommen und wieder einen Raum weiter führen zwei Aufsichten ihr Gespräch auf Spanisch – auch ein Land mit vielen Problemen. All die millionenteuren Bilder in diesen Hallen haben einen reinen Materialwert von wenigen hundert Euro. Erst Mangel und Exklusivität macht aus einem zugegeben schönen Gepinsel ein millionenschweres Meisterwerk. Die Menschen, die auf sie aufpassen, sind umgekehrt sicher jeder für sich ein Individuum, ein großartiges Lebewesen dass es in diesem Universum nur einmal gibt. So besonders wir Menschen uns fühlen sind wir leider gar nicht. Es gibt von uns sieben Milliarden, und nahezu die Hälfte lebt von weniger als einem Dollar pro Tag. Da jedes Individuum einzigartig ist, ist das jetzt kein Feature, dass uns von anderen abhebt. Deshalb trifft es „privilegiert“ ganz gut. Und ich stelle mir vor, dass eben diese Aufsichten aus dem Nimbus der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit in die Pinakothek der Moderne einzogen, diesem Tempel der Hochkultur, um die Privilegien der ersten Welt (Job und Konsum) zu genießen.
Später treffe ich wieder Ulrich und Majid. Wir sind nachmittags am Starnberger See verabredet. Für Majid ist als Iraner unsere Art am See zu liegen sehr ungewohnt. Es fällt ihm schwer seinen Körper zu zeigen. Mit dem Unterhemd geht er bis ans Wasser und hängt es an der Schwelle zum See an einen Ast. Zu unser aller Überraschung machen einige Mädels gerade einen Yoga Kurs auf kleinen Pontons. Für Majid sind sie nackt. Er erlebt gerade das Wochenende seines Lebens und wird nicht müde uns das zu sagen. Wir haben ihn bereits ins Herz geschlossen. Nachdem es anfängt zu nieseln, bringen wir Majid an den Bahnhof und machen uns auf den Weg zu einem Festival. Ulrichs Freundin Kathrin gesellt sich dazu und wir sind wieder zu dritt.
Der Wanda Zirkus ist ein kleines Musikfestival im Ambiente eines Wanderzirkusses. Trotz des Wetters sind die Leute sind super drauf und man spürt die Lebensfreude durch ihre Adern fließen. Kurze Zeit sind auch bei mir alle Alltagssorgen ausgeblendet. Ich lasse mich von der positiven Stimmung erfassen und genieße jeden Augenblick in dieser Oase der Glückseligkeit.
Irgendwann gehen bei mir die Lichter aus. Die langen Fahrten, die kurzen Nächte, alles fordert sein Tribut. Am nächsten Morgen sehe ich mir im Künstlerhaus 40 Werke von Picasso an. Die Schrifttafeln geben mir einen spannenden Blick in die Denkart des Kubismus. Picasso lehnte die dekorative Kunst ab, da sie in ihren Mitteln so begrenzt sei. Mit kubistischen Symbolen könne er sich viel besser und tiefer ausdrücken, als es ein „Louvre-Maler“ jemals könnte. Sehr sehenswert. Ich kehre zum Auto zurück. Im Park gleich neben dem Künstlerhaus sitzt eine kleine Kolonie von Wohnungslosen und trinkt ihr Frühstück.
Ich bin wirklich froh dass ich München kennen lernen durfte und ich bin mir sicher, dass es nicht mein letzter Besuch gewesen sein wird. Vor allem die beiden Jungs sind sehr spannende Persönlichkeiten, und ich freue mich schon jetzt sie an anderer Stelle wieder zu sehen.