Indien (Teil 11 von 12)

Ist es das Land oder der Mensch an sich, der seine Verhaltensweisen ändert wenn er in die Stadt kommt und sich neu organisieren muss. Beginnend mit der Renaissance bildet sich eine bürgerliche Schicht in den Massenansammlungen der Menschen heraus. Welche Änderungen gehen in den Dörflingen vor, die den Weg in die Stadt gefunden haben? Ist das was passiert universal, also Kulturunabhängig? Bedeutet das, dass es keines kulturellen Flusses bedarf, damit sich gewisse Strukturen herausbilden? Wenn es im Menschen selbst verankert ist, dann würde vieles auf den Kopf gestellt. Zum Beispiel, dass es der Westen sei, der den Schwellenländern Ideen des Zusammenlebens vorgibt oder aufgedrängt hat. So wird hier wie bereits erwähnt erforscht, wie sich die Lebensumstände von Dörflern ändern, so dass sie Städter werden. Müssen sie diese Transformation durchmachen und wollen sie das auch?

Weil ich und Frank noch etwas Zeit über hatten, haben wir für einen NGO (Non Governmental Organisation, meistens zum Gemeinwohl gemeint) einen Kurzfilm gemacht. Er soll nur kurz erklären was sie machen und evtl. die neue Webseite schmücken. Der NGO ist klasse. Er wird von vier Frauen geleitet und die Chefin ist Professorin an einer Delhier Uni. Das Motto ist an Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit ausgerichtet. Aber konkret: Sie haben ein größeres Gebäude in dem vormittags in drei Klassen eine Vorschule für 3-4 Jährige Slumkinder eingerichtet ist. Die aus Bildungsfernen Familien stammenden Kids würden sonst nie in einer staatlichen Schule mitkommen. Nachmittags ist Hausaufgaben Betreuung für die Schulkids. Die Eltern würden ihnen nicht helfen können.

Gleichzeitig ist 5 Mal die Woche ein Arzt da. Es gibt weiterführende Klassen im Nähen und Computerkenntnissen. Die Bewohner werden beim Formulieren von Anträgen unterstützt und es gibt eine Suchtberaterin. Ich finde es total klasse, was die Frauen hier leisten. Diesen Slum gibt es nun seit 25 Jahren und er ist staatlich anerkannt. Das bedeutet zwar, dass die Regierung den Slum jederzeit abreißen kann, aber dafür muss sie den Bewohnern neue Behausungen garantieren.

Wir filmen im Slum und interviewen eine Frau. Sie ist etwa 60 und wohnt hier seit 25 Jahren. Sie hat zwei Söhne, beide bereits verstorben, und sieben weitere Töchter. Diese haben wiederum zwei bis drei Kinder. Diese Kinder hat sie in ihrem zwei Zimmer Slum Palast groß gezogen. Bad und WC sind im Slum am Rand angesiedelt und wurden von der Stadt gestellt. Es gibt Kanäle durch die die sonstigen Abwässer in die Kanalisation abfließen. In Indiens Venedig fühle ich mich trotzdem nicht so wohl. Ratten huschen in den Kanälen umher und an den Stellen wo das Wasser sich staut ist das Aroma recht streng. Die Kanäle sind komplett in Eigenregie von den Bewohnern gelegt worden, ebenso Strom und Wasserleitungen. Respekt von meiner Seite. Die Gassen sind so eng, es wuseln überall Kinder herum, wäre ich klaustrophobisch veranlagt, hier könnte ich nicht rein.

Zurück zur Ausgangsfrage. Wenn Ratten zu viele werden zerfleischen sie sich selbst. Wenn Heuschrecken zu viele werden, rekodieren sie sich selbsttätig zu Wanderheuschrecken und werden zu einer Plage biblischen Ausmaßes. Wenn Menschen sich sammeln, dann sind sie ruhig, so lange sie eine Perspektive haben. Erst wenn diese fehlt wird er zu des Menschen Wolf. Diese findet er außerhalb der Traditionellen Netzwerke auf dem Land, als Individuum in der Stadt. Die Möglichkeit in der Anonymität der Stadt seinen eigenen Wahlgruppen denn der familiären Pflichtgruppe beizutreten eröffnet dem Menschen neue Optionen. Wer vom Land kommt kennt den Spruch: „Es wird geschwätzt“. Egal was man macht, in kleinen Gemeinschaften bleiben Geheimnisse nur selten welche. Pflicht und/oder Kür, das sind die Programme die ein Dörfler in der Stadt auszuwählen hat. Ein Slum ist einem Dorf nicht unähnlich. Nur wer die Bildung oder das Glück hat diesem Leben zu entkommen wird überhaupt erst die Gelegenheit bekommen, wählen zu können. Und das können wir in der ersten, individualisierten Welt immer: Wählen.